Leitartikel „Libyen droht zweites Syrien zu werden“ vom 20.01.2020 von Christian Jentsch

Innsbruck (OTS) – Syrien wurde nach dem Ausbruch von Unruhen rasch zum Schlachtfeld der Welt- und Regionalmächte und ist heute ein verbranntes und verwüstetes Stück Erde. Libyen droht nun das gleiche Schicksal. Und Europa bleibt außen vor. Von Christian Jentsch Vor den Toren Europas droht sich die syrische Tragödie zu wiederholen: Im nordafrikanischen Libyen brach nach dem vom Westen orchestrierten Sturz von Langzeitmachthaber Muammar al-Gaddafi ein blutiger Bürgerkrieg aus, der mittlerweile außer Kontrolle zu geraten droht – mit weitreichenden Folgen vor allem für Europa. Rebellengeneral Khalifa Haftar hat vom Osten des Landes aus den Großteil Libyens samt der großen Ölfelder und der wichtigen Häfen mittlerweile unter seine Kontrolle gebracht. Die international anerkannte Regierung in Tripolis kämpft gegen den Ansturm von Haftars Truppen und um ihr Überleben. Darüber hinaus mischen zahlreiche hochgerüstete Milizen mit. Und selbst die Terrororganisation IS konnte im Chaos des Bürgerkrieges wieder Fuß fassen. Doch nicht die libyschen Akteure bestimmen den Ausgang des Bürgerkrieges. Libyen ist längst zum Schlachtfeld der Regionalmächte geworden. Die libyschen Kriegsherren hätten ohne ihre Unterstützer aus dem Ausland längst leisertreten müssen. Doch stattdessen werden sie hochgerüstet. Libyens gewiefter und unberechenbarer General Haftar kann auf die Unterstützung russischer Söldner und auf Waffen aus Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien zählen. Haftars Helfer werfen der international anerkannten Regierung von Premier Fayez al-Sarraj in Tripolis Nähe zur Muslimbruderschaft vor, dem Todfeind der arabischen Diktatoren. Auf der anderen Seite stützt die Türkei die Regierung in Tripolis, neuerdings auch mit Soldaten. Im Gegenzug hat sich Präsident Erdogan eine erhebliche Ausweitung des türkischen Seegebiets im östlichen Mittelmeer gesichert, auch hier geht es um große Öl- und Gasvorkommen. Und Europa? Europa übte sich bisher wieder einmal in Uneinigkeit und Passivität. Frankreich unterstützte – wenn auch inoffiziell – Haftar, Italien setzte auf die Regierung in Tripolis. Wobei eines klar ist: Die Zeche für den Krieg in Libyen muss Europa zahlen. Das Bürgerkriegsland hat sich in den vergangenen Jahren zu einem der wichtigsten Transitstaaten für Flüchtlinge auf dem Weg Richtung Norden entwickelt. Im libyschen Chaos machen viele Schlepper gute Geschäfte. Und in Europa geht die Angst vor einer neuen Flüchtlingswelle um. Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel hat mit der Libyen-Konferenz in Berlin nun versucht, die Gewalt im Bürgerkriegsland einzudämmen und den Weg hin zu einer Friedenslösung zu ebnen. Sie versammelte alle wichtigen Spieler in Berlin. Doch Merkels Initiative könnte zu spät gekommen sein.

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