Wien (pts019/28.11.2016/11:30) – Wohnungen bauen oder zusammenziehen?! Zwar wäre das effizienteste Wohnbauprogramm ein erfolgreiches Partnerinstitut, aber darauf will sich in Wien niemand verlassen! Daher entsteht in einer neuen Phase der Stadtentwicklung neue Lebensqualität in neuen und alten Stadtteilen!
Der CLUB TIROL in Wien lud zur Diskussion ins Wiener Looshaus mit Stadtbaudirektorin DI Brigitte Jilka (geb. Osttirolerin), LA Mag. Christoph Chorherr und Architekt DI Peter Lorenz (Innsbruck-Wien) unter souveräner Leitung von Prof. Dr. Rudolf Nagiller. Resümee: Wien wächst schneller als erwartet und gleichzeitig wesentlich besser als vergleichbare europäische Städte.
Die Statements im Detail:
Stadtbaudirektorin DI Brigitte Jilka: Warum wächst Wien?
Es ist ein jahrhundertelanges, weltweites Phänomen, dass Menschen in Krisenzeiten vermehrt in Städte drängen (Flucht/Schutz, Arbeitslosigkeit/Hoffnung auf Arbeitsplatz, besondere persönliche Situation/Anonymität der Großstadt etc.). Das Bevölkerungswachstum in Wien generiert sich aus einem Wanderungssaldo: primär EU-Ausland, sekundär weiteres Ausland, tertiär Binnenmigration. Der Geburtensaldo ist leicht positiv.
Wie wächst Wien? Hohe Fluktuation: 2015: 115.000 Zuzug, 75.000 Wegzug Wien wird älter und jünger gleichzeitig – und das fast in allen Stadtgegenden. Migration, auch Binnenmigration aus Österreich, aus der EU – sowie Migration aus anderen Staaten. Nach Wien gehen einerseits junge Menschen (Studenten), aber auch betagte Menschen wegen guter Infrastruktur/Versorgung. Menschen die produktiv zum Leben beitragen – dieses Segment wird kleiner. Die durchschnittliche Wohnfläche pro EinwohnerIn liegt derzeit bei 38 m2 pro Person. Das auch deshalb, weil seit 2000 der Anteil an Single-Haushalten um 46 % zugenommen hat. In Zukunft verkleinert sich die durchschnittliche Wohnfläche pro EinwohnerIn.
Welche Schlüsse ziehen wir? Die Stadtstrategie in Hinblick auf Wachstum veränderte sich in der Vergangenheit alle 10 Jahre. Von Schrumpfung und Konzentration auf Erneuerung 1984 über Erneuerung und Erweiterung aufgrund der ersten großen Immigrationswelle 1994, über Systemerweiternde regionale Betrachtung 2005 bis zum Ziehen aller Register im STEP 2025. Von „mehr Stadt in der Stadt“ über „mehr Stadt an neuen Orten“ zu „Stadt, wo es nur geht!“ * 55% Neubau auf bekannten Potenzialflächen * 27% Weiterentwicklung des Gebäudebestandes (Zu-/Aufbauten) * 10% Nutzungsänderung bestehender Gebäude (Wohnungen aus Bürohaus) * 8% Freigabe von „second best“ Flächen
Die Herausforderung der Zukunft : Breites Angebot an Grundrissen mit hoher Flexibilität (Wohnungen sollen mitwachsen/mitschrumpfen, entsprechend des Lebenszyklus) Ausbau von shared services (WG-Wohnen, Haushaltsunterstützung, Autoteilen, usw.) Forciertes Schulbauprogramm: pro Jahr ein Campus mit 40-60 Schulräumen und zusätzlich 50 Klassen als Zubauten; 90.000 Kinder werden derzeit betreut, 228.000 besuchen eine Schule, 195.000 studieren. Erweiterung des öffentlichen Verkehrssystems, das derzeit 940 Mio. Fahrgäste (!) bewältigt. Zusätzliche Donauquerung (265.000 pendeln täglich nach Wien, 86.000 pendeln aus)
Wo sieht man das Wachstum? Ehemalige Bahnhofsareale werden zu gemischt genutzten Stadtteilen entwickelt: NordBhf seit 1995; Süd/OstBhf seit 2010, AspangBhf/Eurogate seit 1995, NW Bhf absehbar, FranzJosefBhf seit 2015; WestBhf Teil Reserve. Klassische Stadterweiterung schiebt die Peripherie immer weiter hinaus; Achsenverlängerungen in die Region; Seestadt Aspern (bis 2030); Laaerberg bis 2018; Wildgärten Atzgersdorf bis 2020; Hausfeld, Berresgasse bis 2025; Donaufeld bis 2030; In der Wiesen bis 2025.
Über die ganze Stadt verteilt werden Baulücken geschlossen, Abrisse bis in den 70er Jahre Bestand hinein und verdichteter Neubau;
Was hindert uns am häufigsten? Veränderungsaverse Grundhaltung von Anrainern und Nachbarn Rechtslage und Ehrentitel (Weltkulturerbe, UVP etc.) Zunehmend die Ressourcenknappheit
Arch. DI Peter Lorenz, Innsbruck – Wien, 30 Mitarbeiter
Städte sind das Wichtigste, was Menschen kulturell geschaffen haben. Beispiele kulturell bedeutender Städte: Rom, Paris, Wien… 1930 – 1970: Neubauten waren fast ausschließlich Wohnsiedlungen, die den rasanten Bedarf an Wohnraum befriedigen mussten. Problemviertel wurden „gebaut“, oft am Stadtrand, Ghettos wie in Paris, Rom oder Neapel entstanden…. seit 1980 – 1990: Renaissance des Urbanitätsbewusstseins. Planer wurden erstmals wieder mit dem Gesamtthema „Stadt“ befasst. Erweiterung vom Wohnplaner zum Stadtplaner. Architekten fühlen sich in der Regel nur für ihr Projekt zuständig. Städteplaner sind in ihrer Bedeutung heute noch unterschätzt und unterbezahlt. Positives Beispiel – Hamburg, Rotterdam.
Ad Wien: 25 aus 1000 Kriterien..
1) Die Stadt ist der Spiegel der Gesellschaft (z.B. welchen Wert haben Kind, Mensch, Auto…) 2) Politik: Stadt als Verbindung zwischen Volk und Politik, Plätze für aktive Bürgerschaft vorhanden? 3) Bürgerbeteiligung: Bürger bereiten Stadtentwicklung vor – Politik entscheidet. Wenn es nicht gut geht, liegt es auch an der großen Faulheit der Bürger! 4) Städtewettbewerb (Buch: Saskia Sassen) 5) Korruption: Wien ist seit 15 Jahren im Bau korruptionsfrei! 6) Wien hat weltweit größten Anteil an sozialem Wohnbau. 7) Stadt gibt öffentlichen Raum vor: Plätze, Begegnungszonen etc., Umsetzung von jeweiligen Projektbetreibern. 8) Damit auf dem Weg von der autogerechten Stadt zur lebenswerten Stadt… 9) In Österreich haben 80 Gemeinden einen Gestaltungsbeirat, 40 Gemeinden davon sind in Vorarlberg! Vorarlberg ist die architekturintensivste Region der Welt. In Wien gibt es keinen Gestaltungsbeirat, es wäre aber wünschenswert! 10) Die besten, beliebtesten, lebenswertesten Städte sind jene, die nicht der Norm entsprechen. 11) Wien: Wir verdichten, bauen Schulen z. B. auf Interspar und erhöhen dadurch die Dichte bei gleichzeitiger Erhöhung der Qualität – eine gute Entwicklung. 12) Durchwegungen: Zäune sind das Antiurbanste, was es gibt… 13) Fassaden: durch Belichtungsvorschriften und Energienormen ist die Fassadenplanung stark vorgegeben. Architektur hat hier durch zu viele Einschränkungen wenig Gestaltungsmöglichkeit. 14) Resümee: Wien wächst gut, besser als viele europäische Städte…
LA Mag. Christoph Chorherr?
Wien: Wir bauen heute mehr als in der Gründerzeit, in 10 – 15 Jahren wird Wien um mehr als gesamt Graz erweitert… In der Gründerzeit hatten 8 Personen insgesamt 20 m2 Wohnfläche. Derzeit liegt der Durchschnitt bei 38 m2.
Bedingt durch den hohen Single-Anteil wäre eigentlich das effizienteste Wohnbauprogramm ein erfolgreiches Partnerinstitut! Die Dichte an Lebenschancen bringt die Leute – auch Tiroler – nach Wien. Gibt vieles, das man noch nicht kennt und dies bietet laufend neue Entwicklungschancen…
Demokratie/Völkervielfalt In der Stadt lernt man trotz vieler Gegensätze einander aushalten. Wien erlebt In den sogenannten „Schwarmstädten“ mit viel Zu- und Wegzug eine enorme Internationalisierung. Die 115.000 jährlichen Zuzügler in Wien haben im Schnitt einen höheren Bildungsstand als jene, die bereits hier leben.
Bauen: Ziel muss es sein, große Fehler möglichst zu vermeiden, denn dieser Fehler stehen 100 Jahre. Wichtig: Feuerwehr bei Planungen mit einbinden, sonst müssen Bäume wieder weichen, wie beispielsweise in der Seestadt. Es braucht gemischte, sich wandeln könnende Städte. Keine Wohnsiedlungen, sondern Lebensräume. Flexible Nutzung: EG-Zone nicht mit Müll- und Fahrradräumen belegen, sondern wenn keine aktuelle Büro- oder Gewerbenutzung, dann temporär Wohnungen hinein. Von vornherein 3,5 Meter hohe Räume planen, damit später belebte Nutzung möglich ist. Treffpunkte für Menschen schaffen, wo sie sich schnell auf einen Kaffee treffen können. Also kein großes Einkaufszentrum, wenn ein belebtes Gebiet entstehen soll.
Dagegen stehen die Wohnbauträger. Alles, was in der Nutzung unsicher ist, wird aus Effizienzgründen möglichst vermieden. Soziale Frage: Wiener haben ein Jahres-Nettoeinkommen von Eur 18.000,–. Bei aktuellen und steigenden Grundstückspreisen sind damit nur mehr kleine Wohnungen leistbar! Gesucht sind Wohnung mit Mietpreisen zwischen 300,- und 600,– Euro. Derzeit werden die meisten Neubauten frei finanziert. Wien ist auch mit Kindern wieder als Lebensraum gefragt.
Architektur in Wien: In Wien sind die prägenden Bauzeiten von Städten alle sichtbar, von Renaissance bis Neuzeit. Seestadt, derzeit zu 20 % besiedelt. Finanzierungen für Kommunen: Wenn wir 10 Campi bauen, könnten wir einen davon sparen, wenn wir konventionell finanzieren könnten. Hier sind die Budgetierungsvorgaben für Gemeinden ein Hindernis. Chorherr: So wie wir jetzt bauen, ist dumm und teuer! Mehr Dichte heißt nicht unbedingt Hochhäuser! Am dichtesten bebaut ist der 1. Bezirk (Gründerzeitbauten). Er ist dennoch der teuerste Fleck…
Bedarf wäre an schönen, modernen Kleinstädten in der Umgebung von Wien, z.B. im Bereich des Bahnanschlusses Tullnerfeld.
Baunormen: Seit ca. 7 – 10 Jahren viele Bauvorschriften und Normen. Dadurch wurde das Bauen um 10 bis 15 % verteuert. Das ist eine teure Überregulierung! Österreich hat lauter unterschiedliche Landesbaugesetze, die laufend weiter entwickelt werden. Keine gute Entwicklung!
Text: Mag. Maria Weidinger-Moser, DI Brigitte Jilka, Charlotte Sengthaler,MA
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