Berlin (pts022/11.10.2017/13:00) – Die Fortschritte in der modernen Kardiologie haben im Leben und im Gesundheitszustand der deutschen Bevölkerung nachhaltig positive Spuren hinterlassen. So versterben heute an einem Herzinfarkt um 45 Prozent weniger Menschen als vor einem Vierteljahrhundert. Jetzt geht ein aktueller Trend in Richtung „Partizipative Entscheidungsfindung“ (PEF) und damit mehr Patientenautonomie in der Herz-Medizin. PEF betont die Rolle der betroffenen Patienten bei der Entscheidungsfindung in der individuellen Diagnostik und Therapie. Dabei besprechen Ärzte die wissenschaftlich fundierten Leitlinien mit dem betroffenen Patienten und in einem gemeinsamen Entscheidungsprozess wird die Herzmedizin individualisiert.
„Die Fortschritte in der modernen Kardiologie haben im Leben und im Gesundheitszustand der Menschen in Deutschland nachhaltig positive Spuren hinterlassen, wie das wohl in keinem anderen medizinischen Fach der Fall war“, sagt Prof. Dr. Hugo Katus (Heidelberg), Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK), auf der Eröffnungs-Pressekonferenz der Herztage 2017 der DGK. Von Donnerstag bis Samstag werden dazu in Berlin mehr als 2.000 Teilnehmer erwartet. „1990 starben von 100.000 Einwohnern Deutschlands noch rund 325 an einer der häufigsten Herzerkrankungen, nämlich Herzinsuffizienz (Herzschwäche) und koronare Herzerkrankung (Angina Pectoris, Herzinfarkt). Bis zum Jahr 2014, also in knapp einem Vierteljahrhundert, sank diese Zahl auf 256 pro 100.000, das ist ein Rückgang von mehr als 21 Prozent.“
An einem akuten Herzinfarkt verstarben 2014 in Deutschland rund 59 pro 100.000 Einwohner, im Vergleich zum Jahr 1990 bedeutet das einen Rückgang von fast 45 Prozent. Prof. Katus: „Ein Trend, der sich auch bei fast allen anderen kardiologischen Erkrankungsformen zeigt – außer bei der Herzinsuffizienz.“
Diese sehr positiven Entwicklungen sind auf unterschiedliche Fortschritte in der Akutversorgung, in der Diagnose und Behandlung zurückzuführen, sagt Prof. Katus: „Wissenschaftliche Leitlinien, an denen die Mitglieder der DGK wesentlich mitarbeiten, sollen sicherstellen, dass die eingesetzten Diagnose- und Therapieverfahren wissenschaftlich fundiert und zum bestmöglichen Nutzen für Patienten angewendet werden.“
„Partizipativen Entscheidungsfindung“ soll Leitlinien-Medizin weiter individualisieren
Der vergleichsweise jungen Ansatz der „Partizipativen Entscheidungsfindung“ (PEF) oder des „Shared Decisionmaking“ (SDM) wird die leitlinienbasierte Kardiologie in Zukunft zunehmend durch eine vom Patienten bewusst mitbestimmte Individualisierung ergänzen, erklärt Prof. Katus: „Shared Decisionmaking betont die Patientenautonomie und die Rolle der betroffenen Patienten bei der Entscheidungsfindung in der individuellen Diagnostik und Therapie. Er werden dabei die wissenschaftlich fundierten Leitlinien mit dem Patienten besprochen und in einem gemeinsamen Entscheidungsprozess wird die Herzmedizin personalisiert.“
Die Herzmedizin ist durch einen enormen methodischen Fortschritt geprägt und immer mehr Patienten leben dank dieser Fortschritte mit ihrer Krankheit immer länger. Allerdings geht dieser medizinische Fortschritt unter Umständen auch mit Belastungen und Risiken für den individuellen Patienten einher, die er möglicherweise wegen hohem Alter, Begleiterkrankungen oder anderen Umstände nicht mehr auf sich nehmen möchte. „Das stellt uns vor ein neues, auch ethisches Problem: Offensichtlich ist nicht immer das, was medizinisch und technisch möglich ist, vom betroffenen Patienten notwendigerweise gewünscht“, so Prof. Katus.
Beschleunigt wird die Entwicklung in Richtung PEF auch durch innovative Techniken wie die vergleichsweise schonenden Katheter-Eingriffe, die zum Beispiel bei der Reparatur oder dem Ersatz von Herzklappen (TAVI, Mitralrekonstruktion) zunehmend die eingreifenden und belastenden herzchirurgischen Operationen unter Einbeziehung der Herz-Lungen-Maschine ersetzen. „Heute können mehr als 60 Prozent der gesamten Aortenklappen-Eingriffe durch diese Techniken ersetzt werden, 2009 waren es noch knapp 20 Prozent“, so Prof. Katus. „Wurde TAVI noch vor kurzer Zeit sehr alten bzw. multimorbiden Patienten empfohlen, erweist sich diese schonende Technik inzwischen auch bei jüngeren Patienten und bei Patienten mit moderatem und hohem Risiko dem herzchirurgischen Eingriff als überlegen. Darüber müssen Patienten kompetent und unvoreingenommen informiert werden, damit sie unabhängig von Leitlinien ihre persönliche Wahl treffen können.“
Partizipative Entscheidungsfindung bereits zu Beginn einer Diagnose möglich
Partizipative Entscheidungsfindung kann aber auch bereits zu Beginn einer Diagnose eingesetzt werden. Das British Medical Journal berichtete kürzlich die Ergebnisse einer Studie zum Thema bei Patienten, die wegen Brustschmerzen eine Notfallambulanz aufgesucht hatten und bei denen klinische Untersuchung, EKG und Troponin-Test unauffällig waren. Für eine exakte Diagnose ist die stationäre Aufnahme zur Überwachung und weitergehenden Abklärung die Regel, berichten US-amerikanische Notfallmediziner. Die Studie zeigte, dass stationäre Aufnahmen ohne Sicherheitsrisiko verringert werden können, wenn Niedrigrisikopatienten an der Entscheidung über ambulante bzw. stationäre Folgeuntersuchungen beteiligt werden.
„Auch wenn noch einige kritische Details zu klären sind, muss sich die Kardiologie der Partizipativen Entscheidungsfindung öffnen“, sagt Prof. Katus. „Der nächste wichtige Schritt wäre ausdrücklich in den Leitlinien zu verankern, dass die Patientenwünsche zu berücksichtigen sind – oder mehr noch: der Patientenwunsch sollte als Pfeiler der ärztlichen Entscheidung in die Guidelines mit aufgenommen werden.“
Quellen: Elwyn et al.: Shared Decision Making – The Importance of Diagnosing Preferences, JAMA Intern Med. 2017; 177(9):1239-1240. doi:10.1001/jamainternmed.2017.1923); Hess et al. Shared decision making in patients with low risk chest pain: prospective randomized pragmatic trial. BMJ 2016; 355 doi: https://doi.org/10.1136/bmj.i6165 )
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