Migration und Flucht: Herausforderungen und Lernpotenziale für die Neurologie

Lissabon (pts003/16.06.2018/09:10) – „Die großen Migrations- und Fluchtbewegungen der letzten Jahre stellen die Neurologie vor einige Herausforderungen, zugleich liefern sie große Chancen auf neue Erkenntnisse über neurologische Erkrankungen wie Multiple Sklerose oder Schlaganfall. Ein Potenzial, das wir nutzen sollten“, sagte Prof. Antonio Federico (Siena) beim 4. Kongress der European Academy of Neurology (EAN) in Lissabon.

Eine Reihe internationaler Studien zum Gesundheitszustand von Migranten brachten neue Einsichten über den Zusammenhang zwischen genetischen Ursachen, Umwelteinflüssen und dem Risiko für neurologische Erkrankungen. Die kanadische PRESARIO-Studie zum Beispiel verglich fast eine Million frisch angekommene Immigranten mit rund drei Millionen Menschen, die bereits vor fünf oder mehr Jahren eingewandert waren. Dabei wiesen die neu dazu gekommenen Immigranten ein geringeres Schlaganfallrisiko in jungen Jahren auf als jene, die schon längere Zeit in Kanada lebten – und das, obwohl erstere einen schlechteren Zugang zum Gesundheitssystem und ein geringeres Einkommensniveau hatten. „Die Studienautoren folgerten, dass das Risiko für Schlaganfall in jungen Jahren weniger genetisch bedingt ist, sondern von Umweltfaktoren abhängt, etwa der Ernährung“, erklärte Prof. Federico.

Eine norwegische Studie erhob die Verbreitung von Multipler Sklerose (MS) bei Immigranten aus verschiedenen Herkunftsländern. Dabei zeigte sich, dass MS bei jenen Menschen am stärksten verbreitet war, die aus Europa oder Nordamerika nach Norwegen gekommen waren. Afrikanische oder asiatische Einwanderer waren hingegen in nur geringem Ausmaß betroffen. Die MS-Prävalenz der Migranten in Norwegen spiegelte somit die ungleiche weltweite Verbreitung der Krankheit wider. Die Studie wies aber auch einen starken Anstieg an MS-Fällen unter pakistanischen Immigranten der zweiten Generation nach. „Das legt wiederum die Vermutung nahe, dass es starke Umwelteinflüsse sind, die das MS-Risiko erhöhen“, so der Experte.

Eine italienische Studie untersuchte den Gesundheitszustand von 114 geflüchteten Menschen aus 25 Ländern, die mittlerweile in der Toskana lebten. Ihre gesundheitsbezogene Lebensqualität variierte nach Herkunftsland, Muttersprache und nicht zuletzt nach der Stadt, in der sie Aufnahme gefunden hatten. Da der Großteil jung und gesund war, brauchten sie nur selten medizinische Behandlung. „Die Daten zur Lebensqualität zeigten aber, dass die Probanden im Vergleich zu Italienern einen ungesünderen Lebensstil pflegen. Sie konsumieren mehr Alkohol und Tabak, ernähren sich zucker- und fettreicher und sind körperlich weniger aktiv. Dadurch steigt auch ihr Risiko für neurologische Erkrankungen“, fasste Prof. Federico zusammen.

In Europa seltene Erkrankungen erkennen

Die Migration aus anderen Kontinenten stellt in Europa ausgebildete Neurologen durchaus vor einige Probleme, etwa bei der geografischen oder saisonalen Anamnese. „Der Großteil der Menschen stammt zwar aus Ländern, über deren gesundheitliche Lage wir im Bilde sind. Sobald sie aus entlegenen Regionen kommen, kann das Einholen aller medizinisch relevanten Informationen jedoch schwierig werden“, erklärt Prof. Federico. Die neurologischen Erkrankungen von Migranten können ein breites Spektrum umfassen, darunter auch genetisch oder infektiös bedingte Krankheiten, mit denen die Ärztinnen und Ärzte der Ankunftsländer üblicherweise kaum zu tun haben. „Morbus Behçet ist beispielsweise eine Erkrankung, die in Europa äußerst selten zu finden ist, im Mittleren und Nahen Osten sowie in Ostasien jedoch häufiger auftritt. Wird diese Krankheit nicht diagnostiziert oder zu spät behandelt, kann sie zu ernsthaften neurologischen und kognitiven Komplikationen führen“, so der Experte.

Bei der Behandlung von Flüchtlingen aus Kriegsgebieten muss bedacht werden, dass sie in der Regel traumatisiert sind, auch durch die Fluchterfahrung selbst, und dann noch im Ankunftsland mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. „Diese anhaltende physische und psychische Überlastung kann bei Flüchtlingen zu neurologischen Beschwerden führen, etwa zu chronischen Spannungskopfschmerzen“, so Prof. Federico.

Wenn geflüchtete Menschen in überfüllten Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden, sind sie darüber hinaus gefährdet, sich mit akuten, potenziell lebensbedrohlichen Krankheiten anzustecken. Varizella-Zoster-Virusinfektion, Influenza, Hepatitis, Tuberkulose inklusive der ZNS-Tuberkulose, Brucellose oder Typhus können sich negativ auf das Nervensystem auswirken. Die Verbreitung von Infektionskrankheiten ist nicht nur ein medizinisches Problem, sie schürt auch Ängste bei der lokalen Bevölkerung.

„Die Migranten gefährden aber nicht, sie sind gefährdet“, betonte Prof. Federico. Erwiesenermaßen haben die Infektionskrankheiten von Migranten kaum Einfluss auf die europäische Epidemiologie. Der Anteil an Infektionskrankheiten kann aber unter Migranten höher sein als in der durchschnittlichen Bevölkerung des Aufnahmelandes. „Daher sind Screening-Programme wichtig, um vermeidbare Infektionskrankheiten rechtzeitig zu erkennen und entsprechend zu behandeln – etwa indem ausreichend Impfstoffe zur Verfügung stehen“, so der Experte.

Kulturelle und sprachliche Barrieren

Bei gesundheitlichen Problemen müssen Migrantinnen und Migranten häufig länger im Krankenhaus bleiben als einheimische Patienten. „Das liegt zum Teil an kulturellen und sprachlichen Kommunikationsproblemen. Die Menschen können ihre gesundheitliche Situation oft nur schwer verständlich machen und wir müssen auf einen Übersetzer warten, um mehr über die Krankheitsgeschichte zu erfahren“, sagte Prof. Federico. Zu berücksichtigen ist, dass Patienten aus Kulturen kommen können, in denen neurologische Erkrankungen wie Epilepsie stigmatisiert sind und diese daher nicht ausreichend diagnostiziert und behandelt wurden.

„Wir müssen sicherstellen, dass unsere Gesundheitssysteme alle Menschen ausreichend medizinisch versorgen, egal, ob sie zur autochthonen Bevölkerung zählen oder neu zugewandert sind.“ In der Regel wissen Menschen mit Migrationshintergrund nur wenig über das Gesundheitssystem des Landes, in dem sie Aufnahme gefunden haben. Kulturelle Unterschiede, niedriger sozioökonomischer Status, geringer Bildungsstand und Sprachbarrieren sind die häufigsten Gründe, die ihnen den Zugang zum Gesundheitssystem erschweren. „Daher ist notwendig, Migranten besser zu informieren“, schloss Prof. Federico.

Quellen: Federico A: Neurology and migrants: What we know, what we learned by neurosciences, what we can do? Journal of Neurological Sciences October 15, 2017, Volume 381, Supplement; Saposnik G, Redelmeier DA, Lu H et al : Risk of premature stroke in recent immigrants (PRESARIO): population-based matched cohort study. Neurology. 2010 Feb 9;74(6); Berg-Hansen P, Moen SM,Sandvik L et al: Prevalence of multiple sclerosis among immigrants in Norway. Mult Scler. 2015 May;21(6); Nante N, Gialluca L, Troiano G, Verzuri A et al: Refugees and asylum seekers‘ quality of life: a Italian experience: Agnese Verzuri. European Journal of Public Health, Volume 26, Issue suppl_1, 1 November 2016; Castelli F, Sulis G: Migration and infectious diseases. Clin Microbiol Infect. 2017 May;23(5); Khan MS, Osei-Kofi A, Omar A, Kirkbride H, Kessel A, Abbara A, Heymann D, Zumla A, Dar O: Pathogens, prejudice, and politics: the role of the global health community in the European refugee crisis. Lancet Infect Dis 2016; 16; Ozaras R, Balkan II, Yemisen M: Prejudice and reality about infection risk among Syrian refugees. Lancet Infect Dis 2016; 16; de Waure C, Bruno S, Furia G, Di Sciullo L, Carovillano S, Specchia ML, Geraci S, Ricciardi W: Health inequalities: an analysis of hospitalizations with respect to migrant status, gender and geographical area. BMC Int Health Hum Rights 2015; 15: 2; Ekmekci PE: Syrian Refugees, Health and Migration Legislation in Turkey. J Immigr Minor Health 2016 Mar 19. [ Epub ahead of print ] .

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