Europäischer Kopfschmerz- und Migränetag: Experten fordern bessere Versorgung

Wien (pts027/11.09.2018/12:30) – Am 12. September begehen zahlreiche Organisationen in ganz Europa den Europäischen Kopfschmerz- und Migränetag, um Öffentlichkeit und politische Entscheidungsträger auf diese besonders häufige und dennoch unterschätzte Gruppe von neurologischen Erkrankungen aufmerksam zu machen. Auch die Österreichische Gesellschaft für Neurologie und die Österreichische Kopfschmerzgesellschaft nutzen diesen Anlass, um auf die Bedeutung von akkurater Diagnostik und effektiver Therapie aufzuklären und auf Defizite in der Versorgung Betroffener hinzuweisen.

Weit verbreitet, häufig unterschätzt

„Daten der WHO zufolge sind Spannungskopfschmerz und Migräne die weltweit zweit- und dritthäufigsten Erkrankungen überhaupt“, sagt Prim. Univ.-Prof. Dr. Mag. Eugen Trinka, FRCP, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie (ÖGN) und Vorstand der Universitätsklinik für Neurologie an der Christian Doppler Universitätsklinik Salzburg. Die „Global Burden of Neurological Disease“-Studie [ 1 ] liefert wichtige Informationen zur Dimension des Problems. Neurologische Erkrankungen insgesamt sind etwa für ein Zehntel der von Menschen in Krankheit und mit Einschränkungen und Beschwerden verbrachten und verlorenen Lebensjahre (DALY) verantwortlich.

Prof. Trinka: „Innerhalb dieser Gruppe wiederum nehmen Kopfschmerzen und Migräne die Spitzenplätze ein – noch vor Demenzerkrankungen. Spannungskopfschmerz als häufigste Kopfschmerzform belastet 1,5 Milliarden Menschen, an wiederkehrenden Migräne-Attacken leiden rund 986 Millionen Menschen weltweit. 58,5 Millionen Menschen haben Schmerzmittel-bedingte Kopfschmerzen, häufig aufgrund lang andauernder Selbstmedikation.“

Auch österreichische Daten zeigen, welches Problem chronische Kopfschmerzen darstellen: [ 2 ] So litten dieser Studie zufolge etwa 56,4 Prozent der befragten Patienten an episodischen Kopfschmerzattacken, 38,3 Prozent an chronischen Beschwerden. Mit einem Anteil von 45,5 Prozent stellten Migränepatienten die größte Gruppe von Betroffenen dar.

Prof. Trinka: „Trotz dieser deutlichen Fakten bestehen gegenüber Kopfschmerzen erhebliche Vorurteile und Missverständnisse. Kopfschmerzen und Migräne werden häufig nicht als ernst zu nehmende chronisch wiederkehrende Erkrankung wahrgenommen. Sie bedürfen jedoch einer fundierten und möglichst früh einsetzenden Behandlung.“

Versorgungsnetz mit Lücken

Problematisch sei aber auch die Versorgungssituation, so der ÖGN-Präsident: „Was wir für diese große Zahl an Betroffenen brauchen, ist eine abgestufte und koordiniert funktionierende Versorgung der Kopfschmerz- und Migränepatienten, die von den Hausärzten als zumeist erste Ansprechpartner der Betroffenen über niedergelassene Neurologen bis hin zu einer ausreichenden Zahl spezialisierter Zentren reicht – wovon derzeit in Österreich allerdings nicht die Rede sein kann.“

Problematisch ist unter anderem das verbreitete Auseinanderklaffen zwischen Experten-Empfehlungen und der Praxis. So hat eine Erhebung in acht österreichischen Kopfschmerzzentren [ 3 ] gezeigt, dass viele Patienten vor der Überweisung in ein spezialisiertes Zentrum keine ausreichende Therapie erhalten haben. Triptane als spezifische Mittel zur Akuttherapie wurden nicht mehr als 6 Prozent der Erwachsenen mit Migräne verordnet.

Durchbruch in der Migräne-Prophylaxe: Antikörper gegen Attacken

Eine neue Wirkstoffklasse könnte die Lebensqualität für viele Menschen mit chronischer oder episodischer Migräne künftig entscheidend verbessern: In den vergangenen Jahren wurden vier monoklonale Antikörper entwickelt und in klinischen Studien untersucht, und zwar Erenumab, Galcanezumab, Fremanezumab und Eptinezumab. Drei wirken als Antagonisten gegen das Protein Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) und einer gegen dessen Rezeptor. CGRP ist ein wichtiger Botenstoff, bestehend aus 37 Aminosäuren, der an der Schmerzweiterleitung beteiligt ist und zu erhöhter Schmerzempfindlichkeit führt. Er kommt während einer Migräneattacke verstärkt in Blut und Speichel vor und spielt eine gut belegte Rolle für das Entstehen der Beschwerden.

„Die Wirksamkeit und Sicherheit der vier monoklonalen Antikörper wurde und wird in vielen Studien untersucht, an einigen davon war auch die Innsbrucker Universitätsklinik für Neurologie beteiligt“, so Assoz.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Gregor Brössner, Präsident der Österreichischen Kopfschmerzgesellschaft (ÖKSG) und Leiter der Ambulanz für Kopf- und Gesichtsschmerzen an der Universitätsklinik für Neurologie der Medizinischen Universität Innsbruck.

Die STRIVE-Studie [ 4 ] attestiert beispielsweise Erenumab eine klare Überlegenheit gegenüber Placebo. Untersucht wurden 955 Patienten, die vor Beginn der Antiköpertherapie durchschnittlich 8,3 Migränetage pro Monat aushalten mussten. Der unter die Haut injizierte Wirkstoff vermochte die Attacken zwar nicht gänzlich zu verhindern, er konnte ihre Zahl jedoch deutlich senken, und zwar um 3,2 pro Monat in der 70-mg-Dosierung und um 3,7 pro Monat in der 140-mg-Dosierung. Die Placebogruppe verzeichnete einen Rückgang von nur 1,8 Tagen pro Monat. Für den CGRP-Antikörper Fremanezumab liegen ebenfalls Daten aus einer Phase-III-Studie mit 1.130 Patienten vor, die unter chronischer Migräne leiden. [ 5 ] Diese erhielten 675mg Fremanezumab subkutan vierteljährlich, monatlich oder ein Placebo. Die durchschnittliche Reduktion der monatlichen Kopfschmerztage betrug bei quartalsweiser Gabe 4,3 Tage, bei monatlicher Gabe 4,6, bei Placebo 2,5 Tage.

Weniger Nebenwirkungen als klassische Migräne-Medikation

Die CGRP-Antikörpern weisen auch ein generell sehr günstiges Nebenwirkungsprofil auf, so Prof. Brössner: „Die neue Medikamentenklasse erspart Patienten jene Belastungen, die bei gängigen Prophylaxe-Mittel gegen episodische Migräne häufig auftreten, wie Gewichtszunahme, Stimmungsschwankungen, Schwindel, Schläfrigkeit, Erschöpfung, ja sogar geistige Beeinträchtigung. Das wird zukünftig auch im Patientengespräch von großer Bedeutung sein und sich vermutlich positiv auf die Therapietreue auswirken.“ Eine wichtige künftige Fragestellung werde auch sein, wie man jene Migränepatienten erkennen kann, die am besten auf die neuen Therapien ansprechen. Der Wirkstoff Erenumab ist seit September 2018 auf dem österreichischen Markt erhältlich. Fremanezumab dürfte als nächste Substanz aus dieser Gruppe für Patienten verfügbar sein.

Gefährliche Kopfschmerzen: Wenn hinter Migräne ein Schlaganfall steckt

Anlässlich des Europäischen Kopfschmerz- und Migränetags soll auch Bewusstsein für seltene Kopfschmerzformen geschaffen werden, die ein Hinweis für schwere Erkrankungen sein können. „Hellhörig sollte man werden, wenn Menschen plötzlich über massive Kopfschmerzen klagen, die bisher von diesem Problem weitgehend verschont waren, oder wenn sich bei Patienten die bekannten Kopfschmerzen hinsichtlich Charakter, Intensität oder Frequenz verändern. Auch wenn der klinische Verlauf der Beschwerden atypisch wird oder zusätzlich neurologische Auffälligkeiten auftreten, sollte dies nicht auf die leichte Schulter genommen werden“, so Prim. Priv.-Doz. Dr. Nenad Mitrovic, Leiter der Abteilung für Neurologie am Salzkammergut-Klinikum Vöcklabruck und Vorsitzender der AG für Schmerz in der ÖGN. „All das können Warnsignale für sehr gefährliche Erkrankungen sein, darunter Schlaganfall, Meningitis, strukturelle Gehirnläsionen, wie vaskuläre Malformationen, Glioblastome oder andere Tumore, die sich hinter veränderten Kopfschmerzen und Migräne mit Aura verbergen können.“

Bei migräneähnlichen Attacken mit untypischem Verlauf ist zudem die Verwechslungsgefahr mit Schlaganfall möglich, denn die Symptome können ähnlich sein. Ein besonders plakatives Beispiel ist die Familiäre Hemiplegische Migräne, eine seltene, genetisch bedingte Form der Migräne, die mit motorischen Ausfällen und Bewusstseinsstörungen einhergeht und leicht als Schlaganfall interpretiert werden kann. Umgekehrt geht ein akuter Schlaganfall oft mit Kopfschmerzen einher und kann klinisch einer Migräne mit Aura ähneln.

Manche Krankheiten, die zu Kopfschmerzen und Schlaganfällen führen, können lebensbedrohliche Zustände hervorrufen, betont Prim. Mitrovic: „Dazu zählt etwa die Subarachnoidalblutung, eine spezielle Form des Schlaganfalls. Ihr Auftreten wird fast immer mit schlagartig einsetzenden, zerreißenden Kopfschmerzen charakterisiert, in der Regel occipital lokalisiert, und ist häufig mit neurologischen Ausfällen gekoppelt.“

Das reversible zerebrale Vasokonstriktionssyndrom (RCVS) ist eine seltene Erkrankung, die ebenfalls Schlaganfälle nach sich ziehen kann. Es entsteht durch ein Zusammenziehen der Muskulatur der Hirngefäße und betrifft vor allem Frauen ab dem 40ten Lebensjahr. RCVS beginnt mit akut einsetzenden, stark ausgeprägten Kopfschmerzen, die innerhalb weniger Sekunden die volle Intensität erreichen. Mögliche Auslöser dieses Syndroms sind die Einnahme von Medikamenten wie SSRI, Triptane oder Ergotamine. Auch Drogen wie Cannabis, Kokain und Amphetamine können Auslöser sein. RCVS kann allerdings auch nach einer Entbindung auftreten.

„Insgesamt ist die Beziehung zwischen Kopfschmerz, Migräne und Schlaganfall sehr komplex“, so Prim. Mitrovic. „Sie können gleichzeitig ohne direkten Zusammenhang auftreten, es gibt aber auch zahlreiche Verbindungen zwischen diesen Krankheiten. Laut einer Metaanalyse ist bei Migränepatienten mit begleitender Aurasymptomatik von einem etwa zweifach erhöhten Risiko für ischämische Schlaganfälle auszugehen. Rauchen und die Einnahme der Pille erhöhen dieses Risiko nochmals deutlich. [ 6 ] “

Ausführliche Statements der Experten und Fotos von der Pressekonferenz finden sich unter: https://www.bkkommunikation.com/presse-service/

Bildunterschrift: V.l.n.r: Prim. Priv.-Doz. Dr. Nenad Mitrovic (Vorsitzender der AG für Schmerz in der ÖGN; Leiter der Abteilung für Neurologie, Salzkammergut Klinikum Vöcklabruck); Prim. Univ.-Prof. Dr. Mag. Eugen Trinka (FRCP, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie (ÖGN); Vorstand der Universitätsklinik für Neurologie – Christian Doppler Universitätsklinik Salzburg); (Assoz.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Gregor Brössner, Präsident der Österreichischen Kopfschmerzgesellschaft (ÖKSG); Universitätsklinik für Neurologie, Medizinische Universität Innsbruck)

Quellen: [ 1 ] Global, regional, and national burden of neurological disorders during 1990-2015: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2015. Lancet Neurol 2017 Nov;16(11):877-897. doi: 10.1016/S1474-4422(17)30299-5. Epub 2017 Sep 17. [ 2 ] Zebenholzer et al, Prevalence, management and burden of episodic and chronic headaches–a cross-sectional multicentre study in eight Austrian headache centres. J Headache Pain. 2015;16:531 [ 3 ] Zebenholzer K, Gall W, Wöber C. Triptan use and overuse in Austria – a survey based on nationwide sickness healthcare claims data. 18th Congress of the International Headache Society, Vancouver 2017 [ 4 ] Goadsby et al., N Engl J Med 2017; 377:2123-2132 [ 5 ] Silberstein et al., N Engl J Med 2017; 377:2113-2122 [ 6 ] Kurth T et al. Migraine and stroke: a complex asso­ciation with clinical implications. Lancet Neurol. 2012; 11:92-100

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