Seltene neurologische Erkrankungen: Internationale Vernetzung für Forschungsfortschritt und bessere Versorgung

Wien/Salzburg (pts029/27.02.2019/11:30) – 3.700 der „seltenen Erkrankungen“ betreffen Gehirn oder Nervensystem. Der Ausbau der Europäischen Referenznetzwerke (ERN) ist ein wichtiger Schritt, um Diagnose und Behandlung zu verbessern und die Forschung voranzutreiben, betont Prof. Eugen Trinka, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie, anlässlich des Internationalen „Tags der Seltenen Erkrankungen“ am 28. Februar.

Die Österreichische Gesellschaft für Neurologie (ÖGN) rückt aus Anlass des „Internationalen Tags der Seltenen Erkrankungen“ am 28. Februar die zahlreichen seltenen Erkrankungen aus dem Bereich der Neurologie in den Mittelpunkt: „Da es nur wenige Betroffene pro Krankheit gibt, ist das Forschungsinteresse oft gering und die Diagnosen sind echte Herausforderungen. Für Fortschritte in der Diagnostik und der Therapie ist daher der internationale Wissensaustausch im Rahmen der Europäischen Referenznetzwerke (ERN) sehr wichtig“, betont Univ.-Prof. Mag. Dr. Eugen Trinka, ÖGN-Präsident und Vorstand der Universitätsklinik für Neurologie in Salzburg.

In der EU leiden schätzungsweise 30 Millionen Menschen an „seltenen Erkrankungen“, die auch als „Orphan diseases“, also „Waisenkinder der Medizin“ bezeichnet werden. „Selten“ bedeutet, dass es unter 2.000 Menschen nur einen Betroffenen gibt. Viele dieser Krankheiten sind mit chronischen Schmerzen und Leiden verbunden und können lebensbedrohlich sein, die meisten haben genetische Ursachen, drei von vier Betroffenen sind Kinder.

3.700 seltene Erkrankungen betreffen Gehirn und Zentralnervensystem

Orphanet, eine von der Europäischen Kommission getragene Plattform für seltene Erkrankungen mit 40 teilnehmenden Ländern, listet über 3.700 Krankheiten auf, die das Gehirn oder das zentrale Nervensystem betreffen. „Das können eigenständige Krankheitsbilder sein, aber auch seltene Unterformen von als häufig angesehene Erkrankungen wie Schlaganfall und erworbene Epilepsien“, erklärt Prof. Trinka.

Einige dieser Erkrankungen erhielten durch aktive Aufklärungsarbeit in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit, etwa die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) mit einer Häufigkeit von 5,2 pro 100.000 Menschen oder die Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung, von der zwei Personen pro eine Million betroffen sind. Dass insgesamt Diagnose und Behandlung dieser Erkrankungen nach wie vor schwierig sind, liegt auch daran, dass der Forschung auf diesem Gebiet zu wenig Mittel zur Verfügung stehen und die Industrie aufgrund der geringen Fallzahlen an der Entwicklung neuer Medikamente wenig ökonomisches Interesse zeigt. „Dennoch gibt es medizinische Fortschritte und wir können einzelne seltene neurologische Erkrankungen heute zumindest teilweise behandeln“, sagt Prof. Trinka.

Gendiagnostik ermöglicht exakte Diagnostik und wirksame Therapien

Durch die verbesserten Möglichkeiten der Gendiagnostik können zum Beispiel einige seltene Formen der Epilepsien exakt diagnostiziert und in der Folge wirksam therapiert werden. Bei der spinalen Muskelatrophie, einer Erkrankung die durch Untergang von motorischen Nervenzellen zu fortschreitendem Muskelschwund führt, kann man heute durch eine neue Therapie den genetischen Defekt überbrücken und somit erstmals das Fortschreiten der Erkrankung deutlich verzögern und in vielen Fällen den frühzeitigen Tod verhindern.

Für das Erkennen der erblichen Gehirnerkrankung Chorea Huntington, die bisher weder geheilt noch dauerhaft aufgehalten werden kann, hat vor Kurzem ein französisch-schweizerisches Wissenschaftsteam einen Schnelltest präsentiert, mit dem die krankheitsrelevante Genveränderung binnen Minuten bestimmt werden kann. Für die Suche nach einer Behandlung wurde Anfang des Jahres in den USA eine Studie zugelassen, die versucht, das Fortschreiten der Erkrankung mit einer vielversprechenden, aber auch technisch herausfordernden Gentherapie in den Griff zu bekommen. „Dabei wird ein modifizierter, nicht krankheitserregender Virus in das Gehirn injiziert, dessen Inhalt die hirneigenen Zellen so umfunktionieren soll, dass sie weniger vom schädlichen mutierten Huntington-Protein herstellen“, erklärt Prof. Trinka.

Diagnose, Behandlung und Forschung brauchen internationale Vernetzung

Durch neue Technologien sind Neurologinnen und Neurologen inzwischen in der Lage, die molekularen Grundlagen seltener neurologischer Erkrankungen besser zu verstehen. „Somit können wir auch eine Vielzahl neuer genetisch und neuro-immunologisch definierter Erkrankungen erkennen“, sagt Prof. Trinka. Seltene neurologische Erkrankungen sind allerdings weiterhin schwer zu diagnostizieren, da die Symptome oft unspezifisch sind. Schätzungen zufolge kann bei der Hälfte der Betroffenen keine klare Diagnose gefunden werden – und eine falsche Diagnose verzögert den Therapiebeginn erheblich.

„Leider ist das entsprechende Fachwissen in dem Land oder der Region, wo die Patienten leben, oft nur spärlich oder gar nicht vorhanden“, bedauert Prof. Trinka. Viele neurologische Abteilungen in Österreich verfügen zwar über erhebliches Spezialwissen für einzelne Patientengruppen mit seltenen Erkrankungen. Ein einzelnes neurologisches Zentrum könne jedoch nicht das umfangreiche und sehr spezialisierte Wissen aufbringen, um den vielfältigen Formen seltener Erkrankungen gerecht zu werden. Prof. Trinka: „Internationale Vernetzung ist daher unerlässlich, um den Patienten eine dem neuesten Wissenstand entsprechende diagnostische und therapeutische Versorgung zu bieten und die Forschung zu seltenen Erkrankungen voranzutreiben.“

Europäisches Netzwerk bündelt Wissen

Gesundheitsdienstleister in ganz Europa haben deshalb die Europäische Referenznetzwerke (ERN) gegründet mit dem Ziel, das Wissen über seltene Erkrankungen zu bündeln. Dazu berufen die ERN-Koordinatoren einen „virtuellen“ Beirat aus Fachärzten verschiedener Fachgebiete ein, der die Diagnose und Behandlung eines Patienten überprüfen kann. „Betroffenen müssen keine mühsame Odyssee durch Europa unternehmen, um geeignete Ärzte und Therapien zu finden.

Stattdessen vernetzen sich die behandelnden Ärztinnen und Ärzte digital zur Fallbesprechung mit internationalen Experten“, berichtet Prof. Trinka. Die Erkrankten haben zwar keinen direkten Zugang zu diesem Netzwerk, können jedoch von ihrem jeweiligen Gesundheitsdienstleister an die entsprechende ERN-Kontaktstelle verwiesen werden. Dadurch erhöhen sich die Chancen auf eine genaue Diagnose und eine kompetente Beratung zur bestmöglichen Behandlung.

Die Universitätsklinik für Neurologie in Salzburg ist im Rahmen der ERN an der Weiterentwicklung der europäischen Vernetzung im Bereich der Erkrankungen, die in Zusammenhang mit Epilepsie stehen, beteiligt. „Es gibt über 130 seltene und komplexe Formen der Epilepsie, eine Vernetzung des Fachwissens ist dringend notwendig“, so Prof. Trinka. Das ERN für seltene und komplexe Epilepsien wird auch eines der Themen beim „Colloquium – Update seltene neurologische Erkrankungen“ sein, zu dem sich am 23. und 24. Mai internationale Fachleute in Salzburg treffen.

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